Meistgehasster Fernsehliebling

Vor 50 Jahren startete der DFF die Agitationssendung „Der Schwarze Kanal“

 â€žDer Osten trifft den Westen.“ So heißt eine berühmte abstrakte Skulptur im Zentrum von Helsinki, ein kleiner Dicker steht vor einem langen Dünnen. Sie stehen beinahe auf Tuchfühlung, aber sie berühren einander nicht und blicken sich sozusagen verstummt und kalt an. Und als ich im Sommer 2000 davor stehe, rätsle ich genau wie alle anderen, was hier Osten und was hier Westen sein soll.

 Der Westen war Ansichtssache im doppelten Sinne

 Der Osten traf den Westen in der DDR jeden Abend, wenn die Nation sich vor dem Fernsehapparat niederließ. Das war noch in den 60-er Jahren den Schülern verboten, und dabei handelte es sich um ein nach Kräften durchgesetztes Verbot. Es lässt sich genau datieren, wann das Westfernsehen gewissermaßen freigegeben worden ist. Am 28. Mai 1973 sprach Generalsekretär Erich Honecker auf einer Sitzung seines Zentralkomitees beiläufig vom Westfernsehen, dass „ja bei uns jeder beliebig ein- und ausschalten kann“. Das war der Dammbruch. Und irgendwann fiel auch innerhalb der Partei der Satz vom DDR-Bürger als dem „bestinformiertesten Menschen der Welt“.  Und wenn dies einer auf sich gemünzt haben muss, dann war es der Chefkommentator des Fernsehens der DDR, dann war das Karl-Eduard von Schnitzler. Von März 1960 an bis Oktober 1989 war seine Sendung „Der Schwarze Kanal“ fester Bestandteil des montäglichen DDR-Fernsehangebots. Einmal in der Woche deutete Schnitzler das Fernsehen der Bundesrepublik in seinem Sinne aus. Und erwarb sich dabei den Ruf des am meisten gehassten SED-Funktionärs.

 Ladendiebin im Fernsehen

 â€žSudel-Edes Frau klaut bei Edeka.“ Die Gattin des agitatorischen Oberlehrers,  so schrieb die „Bild“-Zeitung Mitte der 80-er Jahre, sei von Kaufhausdetektiven in Westberlin beim Diebstahl erwischt worden. Und via Westfernsehen wusste das gleich der ganze Osten.

 Kanalarbeiter als Wunderwerker?

 Ob man seiner Frau etwas in die Tasche manipuliert hatte, um sie fertig zu machen und ihren Mann zu blamieren, steht dahin. Der Klassenkampf ist nicht nur interessant, er ist auch hart. - Den DDR-Bürger interessierte natürlich vor allem, dass Schnitzlers Gattin durch den westlichen Supermarkt bummelte, während ihr Mann das DDR-Kaufhallen-Angebot um die Wassersuppe seiner dialektisch-agitatorischen Schlagworte bereicherte.  Schnitzlers montägliche Agitationssendung „Schwarzer Kanal“ gleicht im Nachhinein übrigens einem Wunderwerk - jeder weiß ganz genau, wie wertlos sie war, obwohl nie jemand auch nur eine Folge gesehen haben will und man bei Beginn der Sendung doch immer nur bis Karl-Eduard von Schni... gekommen sei. Denn - Zufall oder nicht - die Sendung, die regelmäßig vor dem „Schwarzen Kanal“ ausgestrahlt wurde, war ein Quotenhit, wie man heute sagen würde, sie wurde nicht nur von DDR-Bürgern gesehen, sondern hatte als eines der wenigen Programmbestandteile des DDR-Fernsehens sogar im westlichen Bereich messbar Zuschauer. Es war der stets an diesem Wochentag um 20 Uhr dargebotene UFA-Film der 20-er oder 30-er oder 40-er Jahre.

 Unbekannt und dennoch abgelehnt

 Ja, das haben die Alten immer gern gesehen, doch der sich dann anschließende Karl-Eduard von Schnitzler hatte dann immer nur so lange eine Chance auf dem Bildschirm, wie sie benötigten, um zum Aus- oder Umschalter zu humpeln. Denn unabhängig von seinem Programm - das sah ja niemand - war jeder überzeugt davon, dass er nur Mist erzählte.  Ist dem Ede die Telepathie geglückt? Gleich auf Massenbasis? Und wenn ja - ist das dann mehr Wunder- oder mehr Teufelswerk? Ich habe mir damals mitunter die Sendung dessen angeschaut, der bis heute der Lüge bezichtigt wird und kann hiermit versichern:  Es gab viele schlechte Kanal-Sendungen und ein paar gute. Gelogen hat von Schnitzler nicht mehr als andere Berufskollegen auch,  jedenfalls im trivialen Sinne, also dem, dass er bewusst Beispiele, Dokumente oder Aussagen gefälscht hätte. Das war schon deshalb nicht möglich, weil er in den letzten zehn Jahren sein Arbeitsverfahren umgestellt hatte und er daran ging, seine Thesen nicht mit eigenen Argumenten zu stützen sondern mit denen seiner Gegner. Das sah dann jedes Mal so aus, dass er irgend eine Bewertung in den Raum stellte (der Westen existierte für ihn lediglich unter den Aspekten Kriminalitätszunahme, Sozialabbau, Verelendung, Drogen, Hochrüstung und Neofaschismus), dass er also etwas behauptete und danach nur noch jene aufgezeichneten Sendungen des Westfernsehens abspulte, in denen das Gleiche behauptet wurde. Wer sich also den „Schwarzen Kanal“ antat, der sah gemeinsam mit Schnitzler Westen, er sah unter der Obhut und Aufsicht von Schnitzler Westen. Wir Studenten der sozialistischen Journalistik (Agitation und Propaganda) saßen kopfschüttelnd dabei und irgend jemand hatte es mal auf den Punkt gebracht: „Schnitzler beweist in jeder seiner Sendungen, dass der Westen über sich selbst objektiv berichtet.“ Der Chefkommentator war kein Dummkopf, er hätte sich sagen müssen, dass sogar seine Sendung am Ende nur eine mehr oder weniger sanfte Aufforderung darstellte, den Senderhebel westwärts zu legen.

 Schwanengesang des Schnitzler

 Am 30. Oktober 1989 verabschiedete sich der Mann mit den dicken getönten Brillengläsern, dem es niemals gelungen war, sympathisch zu erscheinen, mit seiner unwiderruflich abschließenden Sendung. Nach über 29 Jahren hatte das Volk den „Kanal“ voll.  Dieser Auftritt blieb aber nicht sein letzter. Einige Monate später kam es zu Schnitzlers echtem Schwanengesang, er hatte ein kurzes Comeback bei der allerersten Talk-Im-Turm-Sendung mit Erich Böhme. Schnitzler selbst war der Ãœberraschungsgast, also niemand, außer die Moderatoren natürlich, wusste, dass er in der Halbzeit zur Diskussionsrunde hinzustoßen würde. Doch - DDR-Regierungschef Lothar de Maiziere wusste es auch, denn er bedung sich aus, zuvor den Saal verlassen zu dürfen. Und zu diesem Auftritt ist es dann auch gekommen. Das Symbol steht für alle Zeiten: Der letzte DDR-Ministerpräsident bekam von einem West-Journalisten einen Wink, worauf er sich erhebt und abtritt. Einige Sekunden lang passierte gar nichts und dann schlenderte Karl Eduard von Schnitzler herein. Was dann stattfand, kann nur als Schlachtfest interpretiert werden, die Lust am Hinrichten war unstillbar. Der alte Haudegen wehrte sich tapfer seiner Haut, jeder sah, ein pfötchengebender Schabowski war das nicht, der würde immer der alte bleiben. Aber die Gesellschaft, in die er geraten war, ließ ihn nie auch nur mehr als drei, vier Worte erwidern, fiel ihm ins Wort, durchkreuzte alles, wollte ihn einfach erledigen. Jeder übertraf jeden in seiner - gespielten oder echten - Abscheu. Auf dem Gipfel tönte Otto Schily - ich glaube, es war Schily: „Weshalb sitzen Sie eigentlich hier?“ - „Weil ich einen Vertrag erfülle“, hat Schnitzler trocken geantwortet und damit sogar ein paar Punkte gesammelt.

 Sicher ist sicher: Lüge immer mit der Wahrheit

 Gelogen hat Schnitzler wohl, aber gewissermaßen im höheren Sinne. Und am besten lügt es sich immer noch mit der Wahrheit. Wie das funktioniert, das weiß jeder Journalist. Und ich gebe diesen billigen Trick gerne preis: Angenommen, für einen Sachverhalt sprechen 500 Gründe, und 3 sprechen gegen ihn: Jetzt gebe ich einfach den 3 Gegenargumenten das Gewicht der 500 und den 500 das Gewicht der 3. Das Verfahren ist so bewährt wie unlauter. Und es war das Verfahren des Karl-Eduard von Schnitzler. Im engeren Sinne die Unwahrheit gesagt wird dabei nicht. Hätte er bei der Betrachtung der eigenen, der sozialistischen Welt auch nur zehn Prozent der kritischen Masse in die Waagschale geworfen, die er für den Westen bereit hielt, Schnitzler wäre  sogar glaubhaft gewesen. Und wer annimmt, dass dieses Verfahren heute aus der Mode gekommen sei, der schaue fern. Der betrachte sich heutige Sendungen über die DDR (die auf die Aspekte Mauer, Schießbefehl, Stasi und Schnatterinchen zusammengestrichen worden ist).

 Meistgehasster Fernsehliebling

 Die größte Lüge war demnach nicht von Schnitzler vielmehr über ihn - nämlich die, er sei wirklich mehrere Male vom Publikum zum DDR-Fernsehliebling gewählt worden. In den letzten DDR-Jahren dann blieb die Agitationskommission der SED insofern bei Verstand als sie auf diese Provokation des Fernsehvolkes verzichtete.

 Schnitzler-Lügen haben aktuelle Beine

 Ein Tag, an dem im Westprogramm unversetzt und schamlos gelogen wird - im Schnitzlerschen Sinne - und nahezu ein jeder im Osten das mitbekommt, ist heute noch genau auszumachen. Es ist der Tag, an dem der rückbenannte Deutsche Fernsehfunk ( DDR-1) endgültig den Stecker und sich in die Geschichte zurück zieht. Denn die Berichte der verbleibenden Westsender über die Haltung der deutschen Ostvölkerschaften zu diesem Schritt stammen an diesem Tage ausschließlich aus dem Dresdner Raum, dort, wo nunmehr ARD statt DFF auf dem Programm steht. Dort wurde nie Westfernsehen empfangen, dort wurde sich demzufolge auch eine märchenhafte Vorstellung davon gemacht und dort klingen die Reaktionen an diesem Tage auch überwiegend freundlich oder zumindest nicht feindlich. In allen übrigen Teilen der DDR-Nachfolgeländer  kommt diese Maßnahme überhaupt nicht gut an. Der DFF mit seiner am Ende interessanten Aktuellen Kamera wird als Heimatsender empfunden und seine Abschaltung als Verlust. Dieses Gefühl ist allgemein und dennoch gestattet der nunmehr allein herrschende öffentlich-rechtliche Westfunk ihm keine Existenz im Programm. Die Stunde der Abrechnung ist gekommen. Es ist in tieferem Sinne Eintönigkeit, die sich nun von hier aus entfalten kann. Es trifft keine Unvorbereiteten. Und insofern sagen sich nur wenige Einsichtige, aber die sagen es sich mit Inbrunst, dass ein „Schwarzer Kanal (reloaded)“ heute am Platze wäre.

                                                                                 Pfeffi

 

 

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